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21. Juli 2020

Wer Inflation erwartet, wird enttäuscht

Viele Kapitalmarktakteure denken, wenn sich die Wirtschaftsaktivität wieder normalisiert, wird die Inflation ansteigen. Die Treiber: eine stärkere Nachfrage infolge der anhaltend lockeren Geld- und Fiskalpolitik gekoppelt mit einem beschränkten Angebot, das durch die Auswirkungen von Covid-19 auf die Lieferketten bedingt ist. Doch Keith Wade, Chefvolkswirt bei Schroders, ist anderer Meinung.

Keith Wade, Chefvolkswirt bei Schroders

Zeichen deuten auf Deflation

Erste Indikatoren zeigen: Sowohl die Konjunktur als auch die Preissteigerungen lassen deutlich nach – die Coronavirus-Krise hat stark deflationäre Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Der Einbruch der Nachfrage hat die Ölpreise in Mitleidenschaft gezogen und zu niedrigeren Energiekosten geführt. In den USA waren die Rohstoffpreise auch während der vergangenen Rezession und der Abkühlung zur Zyklusmitte im Jahr 2015 gefallen – und sie signalisieren auch jetzt eine anhaltend schwache Inflation in den kommenden Monaten.
Gleichzeitig erleben wir eine Flut von Schnäppchenangeboten im Einzelhandel, wo Anbieter bemüht sind, die infolge des Lockdown voll gebliebenen Lager zu räumen. Wenn Fluggesellschaften und Hotels allmählich wieder den Betrieb aufnehmen, erwarten wir weitere Preisnachlässe und wären nicht überrascht, in Europa und den USA in den kommenden Monaten eine negative Gesamtinflation zu sehen.
Marktteilnehmer sehen insbesondere im beschleunigten Wachstum der Geldmenge in den USA einen Vorboten für steigende Preise. In der Tat beobachten wir ein außergewöhnliches Wachstum der Geldmenge M2, welche ein Maß für Bareinlagen und sonstige liquide Instrumente, einschließlich Publikumsfonds, ist. Mit Blick auf die potenziell disruptiven Auswirkungen von Covid-19 für die Angebotsseite der Wirtschaft erkennen einige Marktbeobachter nun einen Wendepunkt hin zu mehr Volatilität und einer höheren Inflation. Der Handlungsspielraum der Notenbanken für lockere Geldpolitik und Niedrigzinsen, den die geringe Teuerungsrate ermöglichte, wäre damit weg – und die Unterstützung für Risikoanlagen entfiele.

Doch das Risiko hierfür ist gering. Denn: Die Beziehung zwischen den Kennzahlen zur Bestimmung der Geldmenge und der Inflation ist bestenfalls lose – trotz des berühmten Sprichworts von Milton Friedman, die Inflation sei immer und überall ein monetäres Phänomen. Eine rapide Beschleunigung der Geldmenge geht häufig mit einem entsprechend deutlichen Rückgang der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes in der Wirtschaft einher. Die Gesamtaktivität ändert sich hingegen kaum. Das zeigt die Erfahrung der globalen Finanzkrise: Trotz steigender Geldmenge ließ quantitative Lockerung weder die Inflation zunehmen noch beschleunigte sie die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Stattdessen verblieb das geschaffene zusätzliche Kapital im Bankensystem, wo die Reserven nach der Krise in die Höhe schnellten – die zusätzliche Liquidität fand keinen Weg in die Wirtschaft und schlug sich nicht in Preiserhöhungen nieder.

Lockere Geldpolitik erhöht weder Haushaltsausgaben noch Löhne
Könnte es dieses Mal anders sein und das durch die quantitative Lockerung geschaffene Geld fließt durch erhöhte haushaltspolitische Ausgaben direkt in die Wirtschaft? Zweifelsohne trifft es zu, dass die Zentralbanken Geld schaffen und Staatsanleihen beinahe so schnell aufkaufen, wie die Staatsverschuldung wächst. Jedoch erfolgen diese Wertpapierkäufe an den Sekundärmärkten. Gekauft wird also von Anlegern – und nicht direkt von Regierungen an den Primärmärkten. Die zusätzliche Liquidität fließt folglich, wie schon zuvor, auf Anlegerkonten und in Bankreserven.
Sowohl die extreme geldpolitische Lockerung als auch die hohe Staatsverschuldung müssen dabei im Kontext eines wesentlich stärkeren Nachfrageeinbruchs bewertet werden. Die Regierungen sind eingesprungen, um Löhne fortzuzahlen und Kredite bereitzustellen – andernfalls müssten viele Unternehmen wegen des Lockdown und ausbleibender Zahlungsströme Insolvenz anmelden. Die Maßnahmen der Regierungen zielen darauf ab, die Wirtschaft vor den Auswirkungen des Lockdown zu schützen – und nicht die Nachfrage zusätzlich zu befeuern. Ebenso wenig sind die gestiegenen Emissionen von Unternehmensanleihen und die höheren Kreditvergaben an Unternehmen eine Reaktion auf eine stärkere Unternehmensaktivität. Vielmehr spiegeln sich darin die Bemühungen wider, ausbleibende Cashflows zu kompensieren, um Fixkosten zu decken und Reserven zu schaffen und so den Zeitraum des Lockdown zu überstehen.

Quantitative Lockerung veranlasst die Privathaushalte und Unternehmen nicht zu mehr Ausgaben. Ausgabenentscheidungen werden größtenteils vom Vertrauen in die Zukunft beeinflusst – und das hängt maßgeblich davon ab, wie hoch die Einkommen und wie solide die Unternehmensbilanzen sind. Die Inflationserwartungen der Privathaushalte sind auch in der Ära von ultralockerer Geldpolitik rückläufig. Das trägt wesentlich dazu bei, dass das Lohnwachstum begrenzt bleibt.

Produktionslücke statt Vollbeschäftigung

Eine höhere Inflation in der Zukunft ist keineswegs völlig ausgeschlossen. Sollte sich die Konjunktur erholen, könnten zu langanhaltende Maßnahmen fiskal- oder geldpolitischer Art allzu starke Anreize für die Wirtschaft schaffen. Gleichzeitig könnte die Politik in Versuchung geraten, Haushaltsdefizite ausufern zu lassen, um die Pandemie abzuschütteln und die Wirtschaft wieder auf Vollbeschäftigung zu trimmen. Allerdings würde es schon erheblicher und anhaltender Ausgaben bedürfen, um die Produktionslücke (die Differenz zwischen dem Potenzial einer Volkswirtschaft und der tatsächlichen Wirtschaftsleistung) zu schließen und so Inflation zu erzeugen.

Der wirtschaftliche Leerlauf ist dagegen erheblich: Die Arbeitslosigkeit ist in den USA auf Nachkriegshochs von 13,3 Prozent (Stand: Mai 2020) angestiegen und die Produktionslücke dürfte in diesem Jahr mit 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) jene von 6,5 Prozent während des letzten Tiefs in der globalen Finanzkrise noch übersteigen. Zwar ist die Arbeitslosigkeit in Europa geringer, jedoch ist das in erster Linie Beurlaubungen und Kurzarbeitergeld zu verdanken – die Flaute am Arbeitsmarkt wird hier also womöglich nur verschleiert.
Mit der allmählichen Aufhebung der Kontaktsperren dürften die Arbeitslosenquoten deutlich sinken. Allerdings werden überschüssige Kapazitäten höchstwahrscheinlich bestehen bleiben: Befürchtungen über eine zweite Infektionswelle und geringere Arbeitsplatzsicherheit dürften Verbraucher und Unternehmen beunruhigen und die Erholung bei den Konsumausgaben bremsen.

Hinzu kommen strukturelle Verlagerungen: Sektoren wie Reisen, Tourismus und das Gastgewerbe können infolge neuer Vorschriften nach der Pandemie weniger wirtschaftlich arbeiten. So erkennen Fluggesellschaften schon jetzt die langfristigen Auswirkungen auf ihren Betrieb und nehmen Stellenkürzungen vor. Die Auswirkungen von Auftragsstornierungen auf das verarbeitende Gewerbe führen unterdessen zu nachgelagerten Effekten für die Beschäftigung in der gesamten Wirtschaft. Derart negative Nachwirkungen bedeuten, dass auch weiterhin überschüssige Kapazität vorhanden sein dürfte, was die Inflation unter Druck setzt.

Automatisierung statt Lohnanstieg

Ein weiteres Argument zugunsten des Inflationswachstums ist, dass Covid-19 den bereits bestehenden Trend zur „Deglobalisierung“ – und damit den Aufwärtsdruck auf die Inflation – beschleunigen könnte. Denn: Um ihre Lieferketten gegen Ausfälle zu sichern, könnten Unternehmen auf kleinere, aber geografisch breiter gestreute Fertigungsstrukturen setzen und gleichzeitig wieder größere Lagerbestände halten. Beides verringert jedoch die Effizienz und erhöht die Kosten, die die Unternehmen an ihre Kunden weitergeben – was wiederum zu einem Preisanstieg führt. Auch im Dienstleistungssektor wird die Arbeitsproduktivität geringer und damit die Lohnkosten höher: Durch soziale Distanzierung verringert sich die Kundenfrequenz im Einzelhandel, in der Gastronomie oder etwa bei Fluggesellschaften. Dies könnte zu höheren Preisen und einer geringeren Produktion führen – es droht eine Stagflation, bei der ein geringeres Wirtschaftswachstum mit einer höheren Inflation einhergeht. Infolge einer geringeren Migration könnte sich zudem das Lohnwachstum beschleunigen, da dadurch das Angebot an Arbeitskräften abnimmt. Besonders stark werden hiervon Volkswirtschaften wie Großbritannien betroffen sein.

Aber auch hierzu gibt es einen Gegentrend: die zunehmende Automatisierung. Die Technologie ist und bleibt eine stark deflationäre Kraft und erfuhr während der Pandemie Aufwind. Um robustere Lieferketten aufzubauen, ohne an Effizienz einzubüßen, werden sich Unternehmen zunehmend auf die Automatisierung und insbesondere die Kombination von Robotik und künstlicher Intelligenz konzentrieren. Solche Maßnahmen könnten auch das Problem eines potenziellen Arbeitskräftemangels infolge einer geringeren Migration lösen. All das wird Zeit brauchen, aber letztlich könnte der erhöhte Einsatz von Technologie zu mehr Produktivität in der Wirtschaft und zu niedrigeren Preisen führen. Unmittelbar gesehen schreitet der deflationäre Effekt der Technologie unaufhaltsam voran: Laut Empirical Research Partners hat Amazon sein Kapazitätswachstum beschleunigt, um die während der Pandemie gestiegene Nachfrage zu bedienen.

Schuldenabbau durch Inflation?

Alle Faktoren, die mittelfristig auf einen gewissen Aufwärtsdruck für die Inflation hindeuten, sollten jedoch im Kontext einer schwächeren Nachfrage bewertet werden. Laut Prognosen des Internationalen Währungsfonds dürften die Staatsschulden der G20-Industrienationen in diesem Jahr mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen. Wenn die Regierungen die massive Staatsverschuldung abbauen müssen, die sie während der Pandemie angehäuft haben, wird das die Konjunktur erheblich belasten. Neben zunehmenden Anforderungen an die Staatsfinanzen wird das unweigerlich dazu führen, dass Regierungen Inflation erzeugen werden, um ihre Schuldenlast zu erodieren – zumindest scheinen viele das zu denken. Denn: Weder haushaltspolitische Einsparungen noch Steuererhöhungen werden politisch durchsetzbar sein, insbesondere angesichts des zunehmenden populistischen Drucks. Die Regierungen werden folglich keine andere Wahl haben, als die Geldpressen anzuwerfen und ihre Defizite direkt zu finanzieren, so die Erwartung.
Ein solches Ergebnis ist durchaus möglich, wäre jedoch ein bedenklicher Schritt. Er würde das Ende der unabhängigen Zentralbanken und Inflationsziele einläuten und die Moderne Geldtheorie (Modern Monetary Theory, MMT) und fiskalische Souveränität würden Zentralbanken und die von ihnen verfolgte Geldpolitik ersetzen. Der Verlust unabhängiger Zentralbanken wäre kritisch. Oder wie der Internationale Währungsfonds IWF an einem ähnlichen Punkt im letzten Wirtschaftszyklus korrekt anmerkte: „Unsere Analysen lassen vermuten, dass eine anhaltende geldpolitische Lockerung kaum Folgen für die Inflation haben dürfte, solange die Inflationserwartungen verankert bleiben. Dafür ist jedoch ausschlaggebend, dass die Unabhängigkeit der Zentralbanken gewahrt wird.

Meines Erachtens ist finanzielle Repression ein besserer Weg zum Schuldenabbau als Inflation. Ferner erfreut sich die Inflation nie politischer Popularität – das zeigen die Erfahrungen in den 1970er Jahren in Großbritannien und in zahlreichen Schwellenländern. Angesichts der Bevölkerungsentwicklung und der politischen Bedeutung der Wählerstimmen aus der Gruppe der Rentner trifft dies aktuell mehr denn je zu, denn Rentner trifft die Inflation besonders empfindlich. Wer sich also eine höhere Inflation zur Lösung des Schuldenproblems wünscht, sollte sich die möglichen Konsequenzen genau vor Augen führen.

Schroders/mf

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