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9. September 2020

Next Generation EU

Es schwingt eine gewisse Ironie mit, dass es erst einer Gesundheitskrise bedurfte, um die EU dazu zu bewegen, ihre eigenen Kinderkrankheiten in Angriff zu nehmen. Kommt mit dem Wiederaufbaufonds nun tatsächlich die langersehnte Wende?
Autor: Moritz Schuh

Nicht nur die Politik sondern auch die Märkte schienen sich einig: Das fieberhaft erwartete Ergebnis der Marathon-Sitzung rund um den europäischen Wiederaufbaufonds stellt einen historischen Wendepunkt mit gleich mehreren Novitäten in der Geschichte der Union dar. Im Zeichen der Solidarität konnten sich die Staats- und Regierungschefs Ende Juli zu einem gemeinsamen europäischen Kapitalmarkt und einem Ansatz einer Fiskalunion durchringen. Vor ein paar Monaten noch war das völlig undenkbar. Nun sollen 2021 erstmals kollektive „europäische Schulden“ aufgenommen werden, die über Budgettransfers (sprich EU-weite Steuern der EUKommission) zurückgezahlt werden – und nicht in Form von aus der Eurokrise schmerzlich in Erinnerung gebliebener Kredite, die später teilweise über neue Eigenmittel zurückgezahlt werden müssen.

Next Generation EU

„Der Fonds ist der Beginn eines Prozesses, der eine Kapitalmarktunion beinhalten muss.“ Vítor Constâncio, ehemaliger Vizepräsident der EZB

Der erzielte Kompromiss ist eine abgespeckte Version dessen, was die EU-Kommission zur Bewältigung der Krise bereits im Mai eindringlich gefordert hatte. Gleichzeitig mit dem aufkommenden Siebenjahresbudget einigte man sich auf einen 750 Milliarden schweren EU-Wiederaufbaufonds – offiziell als „Next Generation EU“ bekannt. Er soll sich aus kollektiv am Kapitalmarkt aufgenommenen Krediten speisen. Zähester Verhandlungspunkt der EU-Staatsoberhäupter war dabei nicht etwa die Gesamthöhe, sondern das Verhältnis zwischen nichtrückzahlbaren Zuschüssen und Krediten, die vom Fonds bereitgestellt werden sollen. Anders als die ursprünglich von Brüssel empfohlenen und von Deutschland und Frankreich forcierten 500 Milliarden, einigte man sich schließlich auf 390 Milliarden an Zuschüssen und 360 Milliarden an Darlehen. Zwanzig Prozent (77,5 Mrd. Euro) der Zuschüsse sollen der Aufstockung der normalen EU-Haushaltsprogramme dienen, während achtzig Prozent (312,5 Mrd. Euro) in die sogenannte EU-Fazilität für Wiederaufbau und Widerstandsfähigkeit fließen. Um Zugang zu letzterer zu erhalten, müssen die Mitgliedstaaten nationale Sanierungspläne erstellen, die bestimmten Reformen in Bezug auf Digitalisierung und Nachhaltigkeit, sowie länderspezifisch auch auf Arbeitsrechte und Pensionen gerecht werden.

Wer davon profitiert

„Mit den Beihilfen wollen wir Italien wieder durchstarten lassen, wir wollen das Gesicht dieses Landes verändern.“ Giuseppe Conte, italienischer Ministerpräsidentmind

Wenn die nationalen Parlamente und das Europaparlament dem Entwurf zustimmen, dann könnten die Zuschüsse bereits ab Jänner 2021 beantragt werden und nach Begutachtung der Kommission und Zustimmung des EU-Rats bis zum Jahr 2026 an die Mitgliedsländer fließen. Details über die genaue Verteilung der Hilfen liegen bisher jedoch noch nicht vor, da die Ausschüttung an den durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Schaden geknüpft sein wird. Da dies von den dies- und nächstjährigen Wirtschaftsdaten abhängig ist, ist noch nicht geklärt, wie viel die einzelnen Länder am Ende aus dem Fonds erhalten werden. Wenig überraschend dürfte vorläufigen Prognosen zufolge jedoch Italien mit bis zu 80 Milliarden Euro vor Spanien und Frankreich zu den Hauptprofiteuren der Zuschüsse zählen.

Die Finanzierung ist noch unklar

Ähnlich oder gar interessanter als die Frage der Verteilung, ist für die Märkte jedoch, wie die gemeinsamen Schulden wieder beglichen werden sollen. Man einigte sich darauf, dass das geliehene Kapital bis spätestens 2058 zurückgezahlt sein soll. Doch welche Mittel dafür herhalten sollen, ist bis jetzt nur vage konzipiert. Zwar umfasst der erlassene Beschluss einen Plan, die kollektive EU-Kasse mit „neuen Eigenmitteln“ auf Basis grüner und digitaler Steuern zu füllen, mehr als eine Abgabe auf Plastikmüll und ein Fahrplan für die Ausarbeitung weiterer Planentwürfe wurde bisher aber nicht beschlossen. Sollte in diesen Bereichen keine weitere Einigung erzielt werden, droht das Abkommen, die nationalen Haushalte durch Beitragserhöhungen in Zukunft stark zu belasten. Dies könnte gerade die jetzigen Profiteure treffen, da die aktuelle Kompromisslösung mit Beitragsreduktionen für Österreich, die Niederlande, Schweden, Dänemark, sowie Deutschland einherging.

Ein erster Schritt zur Fiskalunion

Obwohl die gemeinsame Kreditaufnahme in Größe, Dauer und Umfang eindeutig begrenzt ist, wurde mit der Einigung ein Präzedenzfall für zukünftige Krisen geschaffen, der positive Signale an die Märkte sendet und die Fähigkeit zu antizyklischer Politik erhöhen könnte. Dazu müssen sich die Bedenken hinsichtlich der strukturellen Risiken und politischen Spaltungen im Block jedoch weiter zerstreuen. Die Priorisierung strategischer Investitionen gegenüber Sparauflagen ist eine Chance für eine neue Art der Zusammenarbeit, die nun jedoch durch kohärente Richtlinien aus Brüssel und eine effiziente nationale Mittelverwendung auch genutzt werden muss.

Vorteile: Die Einigung könnte längerfristig nicht nur einen Präzedenz­fall für regelmäßige zwischenstaatliche Fiskalprogramme oder supranationale Steuern darstellen, sondern sich auch als bedeutsam für die fragmentierten Finanzmärkte der EU erweisen. Zum ersten Mal könnten gemeinsam besicherte Schuldtitel mit US-Staatsanleihen als sicherem Vermögens­wert konkurrieren und damit die Rolle des Euro gestärkt werden. Alle Anleihen könnten gegen ein gemeinsames Maß bewertet werden, was für Stabilität und Standardisierung sor­gen würde. Zusätzlich könnten die sinkenden Kreditkosten Ländern mit niedrigerer Bonität einen wirtschaftlichen Boost verleihen, denn Anleihen, die derzeit von hoch verschuldeten Ländern ausgegeben werden, werden aufgrund des Kreditrisikos mit einer hohen Prämie gehandelt. Diese Prämie wird an Ban­ken weitergeleitet, die sie dann an Unternehmen als Kredite weitergeben. Banken könnten jedoch von der EU unterstützte Vermögenswerte als Sicherheit verwenden, um Kredite an Unternehmen zu niedrigeren Zinssätzen zu vergeben.Ein sicherer Vermögenswert kann auch die Kosten für die Ausgabe von Staatsanleihen senken, da sie gegen ein vom gesamten Block gezeichnetes Wertpapier versichert wären. Dafür müssten jedoch Bedenken hinsichtlich der struktu­rellen Risiken und politischen Spaltungen zerstreut werden.

Nachteile: Kritiker orten zahlreiche Mängel in der Ausgestaltung der Hilfen. Eines der größten Probleme ist, dass der Umfang des Sanierungspakets verglichen mit dem Einbruch der Wirt­schaft durch die Corona-Pandemie schlicht zu klein ist. Die Zuschusskomponente des Fonds beträgt nur 2,8 Prozent des EU-BIPs im Jahr 2019. Selbst, wenn die Kredite und weitere Notfallpakete hinzugerechnet werden, erreicht die Gesamt­summe immer noch nur 6,1 Prozent – zu wenig, um den prognostizierten Abschwung von über 8 Prozent dieses Jahr auszugleichen. Schlimmer noch: Obwohl viele Mitgliedslän­der die finanzielle Unterstützung eigentlich sofort benötigten, werden die Mittel erst ab 2021 zur Verfügung stehen. Ein wei­terer Kritikpunkt ist die effiziente Mittelverwendung, die sich in manchen Ländern aufgrund tiefsitzenden Reformbedarfs als schwierig erweisen dürfte. Erst, wenn die Mitgliedstaaten ihre Reform- und Investitionspläne vorlegen und diese von der Kommission geprüft wurden, lassen sich die tatsäch­lichen Auswirkungen abschätzen. Zwar wurde ein Blockier­mechanismus eingeführt, der es einzelnen Mitgliedstaaten ermöglicht, Finanztransfers an andere Länder für bis zu drei Monate zu stoppen, wenn die gemachten Reformversprechen nicht erfüllt werden – dieser Mechanismus könnte in weiterer Folge jedoch erst recht einen Keil zwischen die Mitglieder treiben, der eine weitere Integration verhindern dürfte

Credits: Wikipedia/DAVID ILIFF; commons.wikimedia/governo.it; ECB

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