Nicht polarisieren!
Vor rund zehn Jahren wurde der „Arabische Frühling“ ausgerufen. Warum dieser Begriff aber zweifelhaft ist, und wieso die Region nicht zur Ruhe kommt, erklärt der bekannte Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary.
Die Telefonleitung nach Kairo funktioniert einwandfrei, als das GELD-Magazin Karim El-Gawhary an seinem ORF-Standort erreicht. Von dort aus deckt er den arabischen Raum ab, er kommt bei seiner Berichterstattung aber auch schon einmal der Front des sogenannten Islamischen Staates (IS) auf wenige Kilometer nahe. Eine der Botschaften des Nahost-Experten lautet, Arabien nicht schwarz-weiß zu sehen.
Die erschütternde Terrorattacke von Wien drängt die Frage auf, warum sich junge Europäer dem IS anschließen wollen. Wenn das nicht funktioniert, wird ein Blutbad unter Unschuldigen angerichtet. Woher kommt dieser Hass?
Karim El-Gawhary: Das ist wirklich sehr schwer zu erklären. Ein Faktor ist, dass sich viele junge Muslime in Europa auf verlorenem Posten sehen. Wer später zum Terroristen wird, hatte zuvor auch schon oft in der kleinkrimminellen Szene Erfahrung gemacht. Viel wichtiger ist aber die Frage: Was will der IS eigentlich erreichen? Er sagt selbst, dass er die Gesellschaft spalten will. Das erfolgt anhand eines simplen schwarz-weiß- bzw. gut-böse-Schemas. Sollte Europa junge Muslime wirtschaftlich und gesellschaftlich ausgrenzen, hätte der IS sein Ziel erreicht. Europa darf nicht in diese Falle tappen! Die vernünftige Gegenstrategie lautet, der Polarisierung entgegenzuwirken.
Betrachten wir die internationalen Zusammenhänge: Vor rund zehn Jahren begann der sogenannte „Arabische Frühling“, den Sie in Ihrem jüngsten Buch „Repression und Rebellion“ ausführlich behandeln. Können Sie hier einen kurzen Einblick geben?
Karim El-Gawhary: Zunächst möchte ich anfügen, dass es nicht sinnvoll ist, die arabische Welt mit Koran-Zitaten oder Jahreszeiten erklären zu wollen. Wir sehen hier politische Prozesse, die Jahre und Jahrzehnte andauern, ich wehre mich daher gegen den Begriff des „Arabischen Frühlings“. Tatsächlich ist es auch schwer zu sagen, was die Arabische Welt ausmacht. So wie man nicht pauschal beantworten kann, wie sich Europa definiert. Arabien ist nicht schwarz-weiß, sondern sehr vielschichtig und nicht durch die „religiöse Brille“ zu erklären. Klar ist, dass die Region von einer sehr jungen Bevölkerung geprägt wird: 60 Prozent der Bürger sind unter 30 Jahre alt. Wobei sehr viele Menschen in der Arabischen Welt meinen, dass die Religion eine zu große Rolle in der Gesellschaft spielt. Und Umfragen zufolge sagen rund 80 Prozent, dass religiöse Institutionen reformiert werden müssten. Soziale Identität wird somit zunehmend wichtiger als religiöse Identität.
Wie wird es nun in Nahost weitergehen?
Karim El-Gawhary: Es wäre sehr verwegen, hier exakte Prognosen erstellen zu wollen. Man kann aber mit Sicherheit sagen, dass die Situation alles andere als nachhaltig ist: Große Armut, extreme Ungleichheit sowie Machtlosigkeit der Bevölkerung prägen das Bild und sind der Nährboden für Konflikte. Sie müssen sich vorstellen: Zum Beispiel in Ägypten muss ein Drittel der Bevölkerung mit durchschnittlich 1,3 Euro pro Tag auskommen. Zusätzlich hat die Covid-19-Pandemie die allgemeine Lage verschärft und Ungleichheit sowie Armut in Nahost weiter ansteigen lassen. Es herrscht somit vielerorts ein Gefühl der Machtlosigkeit. Für mich ergeben sich vier Optionen für die weitere Entwicklung. Erstens: Resignation, der sich tatsächliche sehr viele Menschen hingeben. Zweitens: Militanz und Terrorismus. Drittens: Flüchtlingsbewegungen. Und Viertens das Erklimmen der Barrikaden. Letzteres werden wir noch viel häufiger sehen, ob diese Protestbewegungen blutig oder eher friedlich verlaufen werden, lässt sich dabei nicht sagen. Jedenfalls glaube ich, dass alle vier genannten Optionen gleichzeitig passieren werden; wir werden also noch sehr viel Unruhe in der Arabischen Welt sehen.
Karim El-Gawhary wurde 1963 in München geboren und studierte an der FU Berlin Islamwissenschaften und Politik mit dem Schwerpunkt Nahost. Seit Mai 2004 leitet er das ORF-Büro in Kairo und betreut von dort den gesamten arabischen Raum. Seit 1991 arbeitet er auch als Nahost-Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, darunter „Die Presse“, „taz“ oder den „Bonner Generalanzeiger“. El-Gawhary ist außerdem erfolgreicher Buchautor. Sein neuestes Werk „Repression und Rebellion“ wurde im GELD-Magazin Dezember Ausgabe vorgestellt.
Fotocredit: ManfredWeis
Das ausführliche Interview, lesen Sie in der GELD-Magazin Dezember Ausgabe unter:
https://geld-magazin.at/flipBooks/gm2012/16/index.html