GELD-Magazin, September 2022

ZUR PERSON Dr. Holger Schmieding ist seit 2010 Chefvolkswirt der ältesten deutschen Privatbank Berenberg. Zuvor war er in London als Chefvolkswirt für Europa für Merrill Lynch, dann für Bank of America und anschließend für die Bank of America Merrill Lynch tätig. Er studierte Volkswirtschaft in München, London und Kiel, leitete unter anderem die Forschungsgruppe „Mittel- und Osteuropa“ am Kieler Institut für Weltwirtschaft und arbeitete als Volkswirt auch für den Internationalen Währungsfonds in Washington. Für die Treffsicherheit seiner deutschen Konjunkturprognosen wurde er mehrfach von der Financial Times ausgezeichnet. doppelt so scharf ausfällt als ich gerade genannt habe. Allerdings hoffen wir, dass nach der Winterrezession, wenn wir das Gas-Thema durch die Flüssiggasversorgung hinter uns haben, ab Frühjahr – oder spätestens ab Sommer – auch wieder ein spürbarer Aufschwung einsetzen kann. Hat die Börse eine Gas-Rationierung und eine tiefere Rezession schon eingepreist? Ich denke, dass die Rezession, die wir im kommenden Winter erwarten, in den Aktienkursen in etwa eingepreist ist. Das Risiko, dass es auch noch deutlich schlechter kommen könnte, ist nicht voll eingepreist. Sollte es also tatsächlich in Kürze zu einem vollständigen Gaslieferstopp aus Russland kommen, dann würde das die Gefahr erhöhen, dass es zu Rationierungen kommen muss. Das würde kurzzeitig ein weiteres nennenswertes Rückschlagpotenzial für Aktien bedeuten. Wobei Aktienmärkte typischerweise übertreiben. Wenn ich mich etwas zurücklehne und berücksichtige, dass wir vermutlich ab Frühjahr oder spätestens Sommer nächsten Jahres wieder einen deutlichen Aufschwung haben werden, dann würde ich sagen, sind auch die Aktienkurse, wie wir sie jetzt haben, fundamental gesehen eher deutlich zu niedrig als überhöht. Als langfristig orientierter Anleger sollte man daher Stück für Stück ein bisschen stärker in den Aktienmarkt gehen. Bisher folgte auf einen Bären- noch immer ein Bullenmarkt. Oder herrscht eine Ausnahmesituation? Ja. Zurzeit ist sehr viel gleichzeitig auf uns eingestürzt: die Pandemie, der russische Angriff auf die Ukraine, der Konflikt China-Taiwan und die gegen den Klimawandel notwendige Energiewende. Hatten wir schon einmal eine vergleichbare Situation? Es gibt bis zu einem gewissen Grad Parallelen zu den 70er- und den frühen 80er-Jahren. Damals hatten wir eine lange Periode eines kräftigen Inflationsdrucks, mehrere Ölpreisschocks, eine längere Phase überhöhter Lohnabschlüsse. Geopolitisch war in den 70ern und 80ern der Konfliktherd vor allem der Mittlere Osten. Aber jetzt haben wir Konflikte, an denen die großen Atommächte beteiligt sind. Zum einen Russland und zum anderen bei Taiwan die Supermächte USA und China. Geopolitisch ist die Lage gerade aus europäischer Sicht heute brenzliger, während aus wirtschaftlicher Sicht und hinsichtlich der Inflation die Lage längst nicht so schwierig ist wie damals. Was sind derzeit die größten Herausforderungen für die Volkswirtschaften und Kapitalmärkte? Die wachsende Staatsverschuldung? Dr. Holger Schmieding, Chefvolkswirt bei der Berenberg Bank Für mich ist die Verschuldung auf der Liste der Herausforderungen gar nicht so ganz weit oben. Was für mich ganz weit oben ist, ist aktuell natürlich die Geopolitik. Da kann man als Volkswirt nicht viel dazu sagen – außer, wenn es schief geht, dann trifft es uns wirklich hart. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist letztendlich wichtig: Wie groß ist die Leistungskraft einer Wirtschaft? Wie entwickelt sie sich und damit die künftigen Steuereinnahmen? Da ist es wichtig, dass wir Maßnahmen brauchen, die das Wachstum pro Kopf stärken. Dass wir populistischen, protektionistischen Versuchungen widerstehen, denn eine Abschottung der Märkte würde dauerhaft die Wirtschaftsleistung schwächen. Wir müssen natürlich auch die Energiewende so vollziehen, dass wir uns nicht gleichzeitig von einzelnen Energielieferanten abhängig machen – nicht wie in Deutschland, wo man aus der Atomenergie aussteigen will, dann aus der Kohle und letztlich völlig von russischem Gas abhängig ist. Eine weitere große Herausforderung ist die Demografie. Also, wie schaffen wir es, dass Leute bei uns gerne und generell auch länger arbeiten wollen. Und reicht unser Ausbildungssystem aus, damit auch Leute, die in der Schule hinterherhinken, anschließend im Berufsleben genug Qualifizierung erfahren, um ihr Potenzial ausschöpfen zu können, so dass wir letztlich mit den Staatsschulden und der demografischen Herausforderung fertig werden. www.berenberg.de September 2022 – GELD-MAGAZIN . 9

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