Ukraine-Krieg: Sargnagel für Globalisierung?
Längerfristige Konsequenzen des Ukraine-Kriegs lassen sich schwer fassen. Dennoch könnten sie sich für die wirtschaftliche und geopolitische Organisation der Welt in den kommenden Jahrzehnten als sehr weitreichend erweisen. Das Stichwort heißt: Deglobalisierung.
„Tatsächlich hat der Krieg in der Ukraine alles, um zum Sargnagel der Globalisierung zu werden. Vorangegangen war der Handelskrieg zwischen den USA und China sowie die Entschlossenheit Chinas, in Asien einen an den Yuan angelehnten unabhängigen Währungsraum zu schaffen“, so Olivier de Berranger, CIO bei LFDE.
Regional statt global
„Beschleunigt wurde diese Tendenz durch die Coronakrise, die die Abhängigkeit der westlichen Länder von den Produktionsketten der Schwellenländer ans Licht gebracht hat. Damit hat die Pandemie die Notwendigkeit gezeigt, zumindest bestimmte strategisch wichtige Produktionsprozesse zurückzuholen.
Die Invasion der Ukraine durch Russland könnte sich nun als ausschlaggebend für die Umkehr der Weltwirtschaft von der Globalisierung in Richtung Regionalisierung erweisen. Die Herausforderung liegt dabei auf der Hand. Wie der französische Philosoph Raymond Aron einst sagte: Die Geschichte ist tragisch. Genau das wird der Welt gerade wieder bewusst. Angesichts dessen steht der Ausbau des liberalen Handels nicht mehr länger im Fokus. Stattdessen geht es darum, für stabile Handelsbeziehungen zwischen Staaten zu sorgen, die dieselbe politische Vision teilen.“
Krieg und Rohstoffpoker
„Mithilfe einiger Zahlen zu verschiedenen Rohstoffen – den Schlüsselelementen der geopolitischen Schlacht rund um den Russland-Ukraine-Konflikt – lässt sich die enorme strategische Dimension dieses Paradigmenwechsels veranschaulichen. In China sind beispielsweise fast 60 % der weltweiten Produktion und ein Drittel der Vorkommen von seltenen Erden konzentriert.
Während allein auf Australien, Chile und Argentinien 80 % der Lithium-Vorkommen entfallen, verfügt China über knapp 70 % der Kapazitäten für die Raffination von Lithium. Das ist nur ein Beispiel unter vielen. Das Sichern der Versorgung mit und der Verarbeitung von Rohstoffen, aber auch der Produktionsketten für grundlegende Komponenten, die dabei entstehen (angefangen bei Halbleitern), wird zweifellos eine der großen Herausforderungen der Welt von morgen sein.“
Europa im Hintertreffen
„Mit Blick auf diese Herausforderungen sind beispielsweise die USA gut gewappnet. Sie besitzen große Vorräte an Schieferöl und -gas und verfügen mit den Greta Plans zudem über riesige Anbauflächen. Für Westeuropa ist die Lage komplizierter. Abgesehen von Kohle, Agrarrohstoffen und in geringerem Maße Uran verfügt es über keine bedeutenden Vorkommen strategischer Ressourcen. Einige dieser Defizite kann es dank seiner engen Beziehungen zu Afrika ausgleichen; allerdings sind diese zunehmend durch chinesische und auch russische Interessen auf dem afrikanischen Kontinent gefährdet.
Wir stehen vor einer neuen Situation, deren Konsequenzen sich bislang nicht in vollem Umfang ermessen lassen, während die Zersplitterung der Welt zum Paradigma der kommenden Jahrzehnte zu werden scheint.“
LFDE/HK